EINE STRASSE MIT ZWEI GESICHTERN

Die unsichtbare Grenze auf der Heinrichstraße

Svenja-A. Möller

Hameln, diese schlanke Kleinstadtidylle. Bedächtig und angepasst, lieber leise als laut – und dabei so normal wie sonderbar. In ihren Straßenzügen gehen Menschen ihrem Alltag nach, streben nach dem kleinen oder großen Glück. Wir haben sie getroffen. Für das Porträt einer Straße – und eine neue Dewezet-Serie. Im zweiten Teil die Heinrichstraße.

Hier geht's hin

Die Heinrichstraße hat ihren Ruf weg. Auch wenn sie 2005 einen Preis als „Schönste Straße“ erhielt, haftet ihr der Ruf des Schlechten an. Nicht, weil die Heinrichstraße selbst unansehnlich ist, sondern weil sie bekannte „Nachbarn“ hat. Die Heinrichstraße geht von der Kaiserstraße ab, wird von der Königstraße gequert und oft mit beiden in eine Schublade gesteckt.

Zudem scheint die Straße, die im hinteren Teil in eine Sackgasse endet, zwei Gesichter zu haben, die zuerst rein optisch voneinander zu trennen sind. So ist der erste Abschnitt mit Kopfsteinpflaster ausgestattet, die Häuser um 1900 gebaut, manches weist einen Renovierungsbedarf auf. Nach der Querung der Königstraße bietet sich jedoch ein anderes Bild. Hier sind die Häuser jünger, die Fassaden gepflegter und die Asphaltdecke geschlossen.

Ganz am Ende der Sackgasse, der Blick nach Norden über den gesamten neuen Teil der Straße.
Ganz am Ende der Sackgasse, der Blick nach Norden über den gesamten neuen Teil der Straße.
Der alte Teil der Straße, in Richtung Kaiserstraße fotografiert.
Der alte Teil der Straße, in Richtung Kaiserstraße fotografiert.
Der Blick in die Sackgasse am Ende der Straße.
Der Blick in die Sackgasse am Ende der Straße.

Wer wohnt hier?

Die Bewohner der Heinrichstraße beschreibt eine Anwohnerin, die namentlich nicht genannt werden möchte, als bunt gemischt. „Es wohnen viele junge Menschen aber auch ältere Paare und große Familien hier“, weiß sie. Viel Kontakt habe man in der Straße allerdings nicht. „Ich kenne eigentlich nur meine Nachbarn hier im Haus, man grüßt sich.“ Mit den Nachbarn ringsherum habe sie aber nicht viel zu tun, verrät die Anwohnerin, die seit vier Jahren im vorderen Bereich der Heinrichstraße wohnt. Das Ehepaar Scheunpflug, das im hinteren Teil der Straße wohnt, spricht hingegen von einer Identifikation mit der Straße und einem gewissen Zusammenhalt. „Von einer Gemeinschaft zu sprechen, ginge hier dann aber doch zu weit“, meint Ingrid Scheunpflug. Fast wirkt es, als würde die Königstraße die Heinrichstraße nicht nur rein physisch spalten, sondern auch in zwei Lager teilen: den vorderen Teil, anonym, in sich gekehrt und laut der Anwohner mit einer höheren Fluktuation und den hinteren Teil, gemeinschaftlich und kontaktfreudig. Ihren Charme haben jedoch beide Teile. Ein Spaziergang durch die Straße.

MIT BLICK AUF DEN KLÜT

Die Brakhan(s) im vorderen Teil der Straße

Ingrid Brakhan wohnt mit ihrem Mann seit fast 50 Jahren in der Heinrichstraße, im "älteren Teil", wie sie selbst sagt. Frau Brakhan hat das Haus von ihren Großeltern bekommen, zuvor hat sie an der Kaiserstraße gewohnt.

„An unserer Straße mag ich, dass manche Häuser, obwohl sie von vorne so kahl aussehen, hinten einen Garten angegliedert haben. Von vorne denkt man dann, dass es hier keine Bäume und nichts gibt. Und hinten haben die Bewohner dann tolle Gärten“, erklärt Brakhan.

"Wirklich schön zentral."

Sie und ihr Mann können vom Wohnzimmer aus auch den Klütturm sehen, haben also auch mitten in der Stadt noch einen Blick ins Grüne. „Wenn das am Abend dann beleuchtet ist, sieht das wirklich wunderschön aus“, schwärmt Brakhan von ihrer Aussicht. „Außerdem liegt die Straße wirklich schön zentral“, meint Brakhan. „Ich mag es auch, dass Kindergärten und Schulen in der Umgebung sind. Auch der Bahnhof und das Theater sind wirklich schnell zu erreichen.“

Die Unterschiede, die zwischen dem alten und dem neuen Teil existieren, kennt auch Brakhan. Und auch wenn ihr Mann sich in jedem Jahr beim Aufhängen des Weihnachtssterns beteiligt, wäre man sich der Distanz untereinander schon manchmal bewusst. „Aber es klappt schon ganz gut“, meint Brakhan. Sie hebt auch die Bekanntschaften die bestehen, sehr positiv hervor: „Eine türkische Familie hat das Haus gegenüber von uns gekauft und zu denen haben wir einen super Kontakt.“

OHNE SIE GEHT FAST NICHTS

Im hinteren Teil der Straße: Das Ehepaar Scheunpflug

„Was? Da wollt ihr hinziehen? In diesen sozialen Brennpunkt?“, hörte auch das Ehepaar Scheunpflug oft genug, als sie vor 14 Jahren vom Klütviertel in die Heinrichstraße zogen. „Für uns war aber die Stadtnähe ausschlaggebend“, erklärt Ingrid Scheunpflug. Das Ehepaar ist in den hinteren Teil der Straße gezogen und bemüht sich dort um ein nachbarschaftliches Miteinander.

Zum einen gibt es dort die Blumenbeete. Die werden von den Anwohnern eigenständig bepflanzt und betreut. In den letzten Jahren sei es jedoch schwieriger geworden, Freiwillige zu finden, wissen Scheunpflugs. „Wenn jemand wegzieht und sich dann niemand mehr findet, der das Beet betreut, wird es schwierig. Daher mussten wir auch schon drei Beete an die Stadt zurückgeben“, so Ingrid Scheunpflug. Das Ehepaar betreut derzeit zwei Beete. Auch die kleinen Hecken am Wegesrand werden privat betreut. Schilder neben den Parkplätzen weisen Autofahrer darauf hin, nicht rückwärts einzuparken, um die Hecken nicht zu beschädigen. Die Zwiebeln, die zur Pflanzzeit in die Erde der Beete gesetzt werden, bezahlen die Beet-Betreuer aus eigener Tasche. Früher, so wissen Scheunpflugs, habe man die Kosten mit dem Erlös eines jährlichen Straßenfestes decken können.

"Mittlerweile sind wir zu alt."

 Das Straßenfest in der Heinrichstraße ist jedoch nicht mehr aktuell. Irgendwann verlief die Idee im Sand, es fand sich niemand, der die aufwendige Organisation auf sich nehmen wollte. Noch vor ein paar Jahren übernahmen auch Scheunpflugs diese Aufgabe. „Aber mittlerweile sind wir zu alt.“ Damals stand für das Straßenfest auch das naheliegende Gemeindehaus zur Verfügung. „Wir brauchten ja auch Warmwasser und Toiletten.“ Nachdem das Gemeindehaus an der Heinrichstraße 13 allerdings verkauft wurde, fiel diese Option endgültig weg. Es bestünde jedoch Hoffnung, das Straßenfest wieder aufleben zu lassen. Eine Nachbarin habe nahegelegt, dass sie sich vorstellen könne, sich darum zu kümmern.

"HIER STIRBT MAN SO WEG"

Bei Gerda Beck hinten in der Sackgasse

Auch Gerda Beck wohnt im hinteren, neueren Teil der Heinrichstraße. „Wir sind schon eine tolle Straße, unsere Sackgasse hier“, beschreibt sie ihren Teil der Straße liebevoll. Seit 1977 wohnt sie an der Heinrichstraße und ist noch immer sehr zufrieden mit der Wohnsituation.

"Eine tolle Straße, unsere Sackgasse."

„Ich sag immer, hier stirbt man so weg.“ Das meine sie aber natürlich im positiven Sinne. Einige ihrer Nachbarn wohnen in dem Haus, seit es 1972 gebaut wurde. Es sei eine wirklich schöne Nachbarschaft.

Der Fuchsbau am Ende der Sackgasse

Am Ende der Sackgasse Heinrichstraße befindet sich ein kleiner Garten mit Spielgeräten und Bänken - das Fuchsbau-Projekt.

In einem Schaukasten weisen Flyer darauf hin, dass der Natur-Erlebnis-Garten donnerstags, mittwochs und samstags von Kindern zwischen 6 und 12 Jahren genutzt werden kann. Zum Toben, zum Spielen und dazu, die Natur kennenzulernen. Die Organisation rund um das Anlegen des Gartens habe bei manchem Anwohner jedoch für Unmut gesorgt, in dem Gärtchen stecke durchaus noch Konfliktpotenzial. Was genau vorgefallen ist, dass verraten die Anwohner allerdings nicht. Mittlerweile hätten sich die Wogen aber auch geglättet.

Das weihnachtliche Ritual

Auch wenn das Engagement in Sachen Blumenbeete zurückgeht und auch das Straßenfest nicht mehr stattfindet, ein beliebtes Ritual ist der Heinrichstraße geblieben: der Herrnhuter Stern.

An jedem ersten Advent eines Jahres wird der Kunststoffstern über der Straße gespannt und bleibt dort bis zum Dreikönigstag. „Schon vorher fragen die Leute, ob der Stern auch in diesem Jahr wieder hängen wird“, verrät Ingrid Scheunpflug. Der Stern wurde vor einigen Jahren vom Erlös des Straßenfestes gekauft. Auch ein Grill wurde damals angeschafft und wartet auf seine Reaktivierung.

Die Geschichte der Straße

Benannt ist die zweigeteilte Sackgasse in der Nähe des Hamelner Bahnhofs mit großer Wahrscheinlichkeit nach Prinz Albert Wilhelm Heinrich von Preußen (1862-1929), dem Sohn von Kaiser Friedrich dem Dritten, der auch als 99-Tage-Kaiser in die Geschichte einging. Warum gerade dieser Prinz für die Namensgebung gewählt wurde, ob er vielleicht einmal in Hameln zu Besuch war, ist nicht bekannt. Passend dazu ist die Heinrichstraße jedoch von der König- und Kaiserstraße umgeben, auch die Prinzenstraße ist nicht weit entfernt. Laut Informationen des Hamelner Stadtarchivs ist die Heinrichstraße in den Akten erstmals im Jahr 1895 erwähnt, wobei es sich hier nur um den vorderen Abschnitt handeln kann. Der hintere Straßenteil wurde erst später erbaut und ist wesentlich jünger.

Die Heinrichstraße in Zahlen

Die Heinrichstraße in Zahlen

Ein Multimedia-Projekt der Dewezet

© 2015 Deister- und Weserzeitung Hameln

Text: Svenja-A. Möller

Foto/Video: Nina Reckemeyer

Multimediale Aufbereitung: Nicole Trodler

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  7. Das weihnachtliche Ritual
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